Vivere - Leben und Lebendigkeit
Leben und Lebendigkeit sollten Kennzeichen aller Mitglieder der Franziskanischen Familie sein. Einige Impuls- Gedanken im Nachgang zu einer Online- Veranstaltung zur Franziskanischen Regel.
„Vivere hat den Charme einer Baustelle“, so Hiltrud Bibo. „Es gibt ein Grundstück und einige Pfosten sind eingeschlagen, aber das Haus ist erst am Entstehen.“ Gemeint ist ganz positiv: Vivere bietet viele Möglichkeiten der kreativen Mitgestaltung. Aber ist das Bild nicht dennoch zu statisch? Was zeichnet Vivere aus?
Vivere wurde vor rund 8 Jahren aus der Taufe gehoben, wesentlich inspiriert durch Hermann Schalück und Helmut Schlegel. Bei einer Online- Veranstaltung zu 800 Jahren Franziskanische Ordensregel am 16./17. Juni 2023 „8 von 800: Altbewährte franziskanische Werte neu erlebt, belebt und gelebt“ schwang auch die Frage mit, in welche Richtung sich Vivere entwickeln wird. Welches Charisma hat die Gruppierung, was unterscheidet sie vom Charisma von Ordenschristen?
In der Struktur Theorie – Praxis – Transfer lauschten die gut 30 Teilnehmenden zunächst einem von Stephanie Schaerer moderierten Trialog, in dem Helmut Schlegel, Hermann Schalück und Hiltrud Bibo die Franziskanische Ordensregel näherbrachten. Deutlich wurde, dass die Zeit des Franziskus von ähnlichen Fragestellungen geprägt war wie die heutige. Er reagierte mit seiner Lebensform auf die (Fehl)Entwicklungen von Geld und Macht innerhalb von Gesellschaft und Kirche, auf Gewalt und interreligiöse Bekämpfungen. Wie grundsätzlich andere Orden auch, forderte Franziskus auf zum Aufeinanderhören (Gehorsam), zum einfachen Leben (Armut) und zur Achtung der Würde jedes Menschen und jedes Geschöpfes (Keuschheit). Sein Maßstab war das Evangelium und seine Praxis das Wanderleben Jesu und seiner Apostel. Regel, Leben und Evangelium sind für ihn Synonyme. Franziskus hat die Ordensregel nicht als auferlegten Zwang, sondern als Hilfe für jeden einzelnen Bruder verstanden: „Denn er sagte, unsere Regel sei für die, welche ihr nachfolgen, das Buch des Lebens, die Hoffnung auf das Heil, das Unterpfand der Seligkeit, das Mark des Evangeliums, der Weg des Kreuzes, der Aufstieg zur Heiligkeit, der Schlüssel zum Paradiese und das Siegel des ewigen Bundes“ (Spiegel der Vollkommenheit 4).
Beim Mattenkapitel der Franziskaner in der Pfingstwoche 2023 gebrauchte einer der Moderatoren ein Bild aus dem Bereich der Architektur: Die Regel ist ein Haus, deren Kapitel einzelne Räume gestalten. Einige Räume sind weiter aktuell. Manche dieser Räume werden heute in ihrer Ausstattung nicht mehr gebraucht. Andere Räume sind auch heute wichtig, brauchen aber eine Aktualisierung (z.B. das Reitverbot). Andere Räume (wie der Medienbereich) sind völlig neu dazugekommen, die erst ausgestattet werden müssen. Den Gedanken des Raumes führt auch Andreas Schönfeld an: „Jede große Ordensregel ... ist eine Synthese aus Innerlichkeit und Weltklugheit. Eine Ordensarchitektur, die ihren Reformgeist anschaulich verkörpert, ist der beste Beweis dafür. Sie realisiert das Raumkonzept, in dem sich geistliche Erneuerung entfalten kann“. Die Herausforderung besteht darin, die Regel als Lebens-Raum so zu gestalten, dass das Charisma sowohl der/s Einzelnen als auch der Gesamtgemeinschaft in der heutigen Zeit zur Wirkung kommt und sich entfalten kann.
Vivere steht für Offenheit und Flexibilität. Die Mitglieder leben den Be-Weg-ungscharakter der Franziskanischen Familie. Jede/r ist grundsätzlich willkommen, unabhängig von einer Konfessions- oder Religionszugehörigkeit. Dennoch stellt sich auch Vivere die Grundfrage jedes Zusammenschlusses: Wieviel Struktur und Ordnung sind nötig und sinnvoll, wie viel Freiheit ist möglich und gestaltbar? Welchen Bezugsrahmen braucht es bei aller Offenheit? Wie gelingt es, dass Charisma zu bewahren und nicht zu schnell durch eine Institutionalisierung zu ersticken? Ganz ohne Leitbild kommt auch eine Bewegung nicht aus. Bei aller „Offenheit und Weite“ braucht es gewisser Leitplanken, um auf der Spur zu bleiben, „gemeinsam nach einem Weg [zu] suchen, das Evangelium in franziskanischer Spiritualität zu leben – zunächst in unserem jeweiligen persönlichen Alltag, aber auch mit der Perspektive, Gemeinschaftsleben zu wagen. Unser Glaube ist unsere gemeinsame Kraftquelle.“
Der Franziskanerorden musste die Erfahrung machen, dass das radikale Charisma seiner Gründergestalt in eine abgeschwächte (und der übergeordneten Institution Kirche angenehmere, weil handhabbarere) Form transformiert wurde. Dadurch wurde es zwar einerseits „gezähmt“, blieb aber andererseits erhalten. Mit ihren demokratischen Strukturen blieben die franziskanischen Ordensgemeinschaften ein Kontrastmodell zur hierarchisch verfassten kurialen Kirche und sind weiterhin Stachel im Fleisch von klerikaler Selbstgenügsamkeit und ekklesialem Machtgebaren (hoffentlich!).
In einem Beitrag von 2009 habe ich es so formuliert: „Charisma und Amt / Institution werden immer in einer mehr oder weniger starken Spannung zueinanderstehen. Einer Spannung, die es im konstruktiven Sinne „spannend“ macht, die aber auch in der Gefahr steht zu überspannen und das gemeinsame Band zu zerreißen. Das Charisma ohne Institution steht in der Gefahr, häretisch, schismatisch und sektiererisch zu werden. Die Institution ohne Charisma steht in der Gefahr zu erstarren. Beide sind aufeinander angewiesen. Eine gewisse Dilemmasituation bleibt. Es bringt nichts, in Nostalgie der vermeintlichen „Idealsituation“ des Anfangs nachzuweinen; gefragt sind Antworten auf die Herausforderungen von heute. Dies beinhaltet (sowohl ordensintern wie im Verhältnis zur Kirche), Fehlentwicklungen zu korrigieren und sich immer neu auf die beiden Kriterien von Franziskus zu besinnen: auf ein evangeliumsgemäßes Leben und auf ein authentisches Leben. Franziskus hat aus seiner inneren Haltung auf jede Form von Polemik und Besserwisserei verzichtet. Ihm ging es darum, sich über niemanden zu erheben, andere nicht herabzusetzen und zu verurteilen, sondern durch das eigene Beispiel zur Umkehr zu bewegen.
Treue zur Kirche heißt aber keineswegs Gleichförmigkeit (Konformität) und Unterwürfigkeit. Sowohl bei Franziskus wie bei Klara zeigt sich ihr beharrlicher und geduldiger Kampf um ihre Lebensform. Die Kirchlichkeit von Franziskus ist unbestreitbar. Er war (im nichtkonfessionellen Sinne) katholisch (ein Mann der universalen Weite) und evangelisch (ein Mann des Evangeliums). Ich habe damals Hermann Schalück zitiert: „Die Franziskanische Familie versteht sich als "Geschenk des Geistes" an die eine "Ecclesia semper reformanda". Sie tritt dafür ein, dass sich in der Kirche noch unerschlossene Charismen von Männern und Frauen entfalten können und neue Formen von kirchlichen Ämtern und Beauftragungen entstehen. In ihr soll immer ein "anderer" Stil der Kommunikation vorherrschen, der von persönlicher Zuwendung, Partnerschaftlichkeit, Partizipation, Synodalität, Abbau von Klerikalismus und gerechtem Umgang zwischen den Geschlechtern geprägt ist.“
Letztlich gilt für jede franziskanisch-klarianisch-elisabethisch orientierte Gruppierung, dass es guttut, ein Standbein und ein Spielbein zu haben, einen Fuß, der steht und einen Fuß, der geht. Es braucht das Bewahrende und es braucht das Innovative, das Traditionelle und den Freiraum. Es braucht die Stabilität und die Beweglichkeit, das Beharrende und den Aufbruch. Es gilt, die Zeichen der Zeit zu erkennen und das Neue im Alten zu spiegeln und zu reflektieren und umgekehrt das Alte am Neuen zu überprüfen.
Wer Grenzen überschreitet, muss schauen, seine Substanz zu wahren. Dazu bedarf es der Rückbindung (= religio) an den Ursprung und an die Quelle. Es bedarf der Balance zwischen Innen und Außen, um das Wechselspiel zwischen Mystik und Politik gestalten zu können. Es gilt, sich heraus-fordern zu lassen von dem, was die Welt und die Menschen bewegt und nicht selbstreferenziell um sich selbst zu kreisen. Es gilt zugleich, sich zu ver-inne-rlichen, was der Kern dessen ist, was ich leben möchte. Franziskus bringt dies in der Regel für die Einsiedeleien zum Ausdruck. Die Brüder wechseln sich ab in der Martha- und Maria-Rolle. Sie pendeln zwischen Rückzug in die Stille der Berge und Aufbruch in den Lärm der Städte. Sie gestalten ihr Leben im Wechselspiel von Tiefe und Weite. Das Innen stellt die Frage: wofür brennst Du? Das Außen stellt die Frage: für wen leuchtest Du?
Vom Ursprung her ist das Franziskanische mit Itineranz verbunden, mit Unterwegs sein. Vivere hat den Vorteil, dass sie nicht den Ballast der Geschichte mit sich herumschleppen in Form von Häusern, Institutionen und Werken, wie es die Orden tun. Deren Situation ist von Überalterung und Schrumpfung gekennzeichnet, von Reduzierung und Abbau. Die Stimmungslage ist oft eher von Entmutigung, Müdigkeit und Resignation geprägt. Die Bewegung Vivere kann ihrem Namen nach für Leben und Lebendigkeit stehen. Doch auch deren Mitglieder sind schwerpunktmäßig „mittelalterlich“ und rund um den Beginn des Ruhestands. Jüngere zeigen wenig(er) Interesse. Wie kann es geweckt werden und was bedeutet das für die weitere Entwicklung? Wird Vivere „nur“ zu einem weiteren Ast am Baum der Franziskanischen Familie, so die kritische Anfrage einer Teilnehmerin…
Die Veranstaltung machte deutlich, dass die verschiedenen Formen franziskanischen Lebens eine Ergänzung darstellen und keine Konkurrenz. Im zweiten Teil der „Praxis“ befragte Stephanie Schaerer in eingespielten Videointerviews fünf Vivere-Mitglieder, eine Klarissin des Zweiten Ordens und eine Novizin einer Frauen-Gemeinschaft des Dritten regulierten Ordens. Ähnlich wie in der Ökumene sollte das Gemeinsame und Verbindende im Vordergrund stehen, das Unterscheidende und Trennende aber nicht negiert werden. Es sollte als Bereicherung verstanden werden. Es ist durchaus möglich, dass Einzelne in mehreren franziskanischen Gruppierungen unterwegs sind. Manche schätzen bewusst den lockeren Rahmen, andere möchten für sich eine stärkere Verbindlichkeit eingehen und sind neben der Teilnahme an einer Vivere-Gruppe gleichzeitig Mitglied im OFS und legen dort ein Versprechen ab.
Lebendigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass man sich auseinandersetzt, indem man sich zusammensetzt. Zur Streitkultur gehören Er-Mut-igung und Zu-Mut-ung gleichermaßen, gehören Toleranz und Unterstützung in aller Unterschiedlichkeit. Franziskanische Spiritualität schafft (Frei)Räume für die Gestaltung des Geistlichen und für die Charismen der Einzelnen. Sie ist mehr ein Wie als ein Was. Sie ist vor allem eine Haltung, die mit der Umkehr bei sich selbst beginnt, denn vor aller Theorie zählt die Praxis, vor aller Verkündigung das Beispiel des eigenen Lebens. Die Vor-Liebe vor-leben ist Ausdruck eines geistlichen Lebens. Die äußeren Handlungen sind Ausdruck inneren der Haltungen.
Wie das konkret gehen kann, versuchte der dritte Teil „Transfer“ in Kleingruppenarbeit und plenarem Austausch zu ergründen. Wo gibt es Beispiele für gelebte franziskanische Spiritualität, welche Ideen und Projekte finden sich in den verschiedenen Gruppierungen? Der Studientag zeigte, wie das Miteinander einer bunten Mischung von Frauen und Männern aus den unterschiedlichen franziskanischen Zweigen in ihrer Fülle und Vielfalt eine Bereicherung darstellt. Es wäre wünschenswert, wenn der geschwisterliche Austausch auf Augenhöhe in ähnlichen Veranstaltungsformaten und konkreten Begegnungen weiter gepflegt und vertieft werden kann. Als noch vergleichsweise junge Bewegung darf Vivere gerne Stachel im Fleisch der alteingesessenen (Ordens)Gemeinschaften sein, um gemeinsam für Leben und Lebendigkeit aus der Kraft des Evangeliums einzustehen!
Br. Stefan Federbusch