St. Damiano Kreuz

Erklärung von Lothar Hardick OFM

Im Jahre 1206 wurde Franziskus in Spoleto von Gott durch ein Traumgesicht nach Assisi zurückgerufen. Er erhielt die Weisung, darauf zu warten, dass Gott ihm seinen Willen offenbare. Franziskus begann, intensiv um die Erkenntnis des göttlichen Willens zu beten. Mit besonderer Vorliebe suchte er zu diesem Beten das Kirchlein San Damiano auf, das außerhalb der Stadtmauern Assisis lag. Dort war ein altehrwürdiges Kreuz. Und dieses Kreuz sprach eines Tages zu Franziskus:

Franziskus! Geh hin und stelle mein Haus wieder her, das, wie du siehst, zu zerfallen droht!

Wir verehren dieses Kreuz, weil es uns an eine entscheidende Stunde im Leben unseres Heiligen Vaters Franziskus erinnert. Dieses Kreuz ist aber außerdem von einer Aussagekraft, die theologisch einen einmaligen Reichtum bedeutet.
Betrachten wir darum dieses Kreuz einmal in allen seinen Einzelheiten:
Unser Erlöser ist hier nicht dargestellt als von Schmerzen zerrissen. In großer Ruhe scheint er am Kreuz förmlich zu stehen. Aber hat er das Kreuzesleiden nicht wirklich durchgestanden, als der Sieger über Sünde, Hölle und Tod? Er hat das Kreuz, seinen Tod erlitten; aber es hat ihn nicht zerbrochen. Er hat vielmehr all das auf sich genommen, um es zu zerbrechen.
Stellen wir und dieses Kreuzbild einmal vor ohne den Leib des gekreuzigten Herrn. Dann tut sich hinter seinen ausgespannten Armen das leere Grab auf, wie es die frommen Frauen am Ostermorgen seiner Auferstehung fanden. Und wir sehen tatsächlich ganz rechts und links, wie die Frauen zum leeren Grab kommen. Ebenso erkennen wir auf beiden Seiten, unter den Armen des Gekreuzigten, jeweils zwei Engel, die am leeren Grab sich in lebhaftem Gespräch einander zuwenden und mit ihren Händen auf den Herrn zuweisen. Es sind die Engel, die von der Auferstehung Jesu Christi zu denen sprachen, die an ihn glaubten.
Über dem Haupt des Gekreuzigten sehen wir in einem leuchtend roten Kreis den Herrn, wie er emporsteigt zum Himmel. In der Hand trägt er das Kreuz wie ein Zepter des Triumphes. Die Chöre lobpreisender Engel umgeben ihn. Und ganz am oberen Rand des Kreuzes ist in einem Halbkreis die Rechte des Vaters abgebildet. So finden wir in diesem Kreuzbild das gesamte Heilswerk unseres Herrn dargestellt, wie wir es im Glaubensbekenntnis aussagen:

Gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters.

Wir beten im Glaubensbekenntnis weiter:

Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.

Ganz unten am Schaft des Kreuzes findet sich - wenn auch im Laufe der Jahrhunderte stark beschädigt - die Darstellung einiger Apostel, die erhobenen Hauptes zum Herrn emporschauen.

Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut gen Himmel? Dieser Jesus wird einst wiederkommen, so wie ihr ihn habt auffahren sehen.

Damit ist die Aussage dieses Kreuzbildes noch nicht erschöpft. Der Herr hat sein Heil für uns Menschen gewirkt. Ob wir des Heiles teilhaftig werden, das entscheidet sich daran, wie wir zu ihm stehen.
Die wird versinnbildet in den Menschen, die rechts und links neben dem Leib des Gekreuzigten abgebildet sind. Die sehr kleinen Gestalten ganz am Rande sind vom Besucher aus links): der Soldat mit der Lanze und rechts ein den Herrn verspottender Jude.

Wer sich gegen den Herrn wendet, ist ein kleiner unbedeutender Wicht. Groß wird der, der sich zum Herrn bekennt, zu ihm steht. Das sehen wir an den groß abgebildeten Menschen (auf der linken Seite von außen nach innen): die Gottesmutter Maria und der Apostel Johannes. Auf der rechten Seite vom Leib des Herrn her gesehen: Maria Magdalena, Maria die Mutter des Jakobus und der römische Hauptmann. (Über der Schulter des Hauptmanns ist übrigens ein Gesicht zu sehen. Dort hat sich mit höchster Wahrscheinlichkeit der Künstler verewigt.) Wo der Kreuzschaft in die breitere Fläche übergeht, ist etwas unterhalb dieser Stelle rechts ein Hahn gemalt. Das will wohl besagen:

Gib acht und fühl dich nicht zu sicher! Es war schon mal einer, der überzeugt war, an den Herrn zu glauben. Aber er hat den Herrn verleugnet, ehe der Hahn krähte

Es gibt kein anderes Kreuzbild, das derartig reich ist an theologischer Aussage. Das gesamte Heilswerk des Herrn wird vor uns hingestellt. Zugleich werden wir gemahnt, diesem Heilwerk Gottes recht zu begegnen.
Durch dieses Kreuz wurde Franziskus angesprochen und in den Dienst der Kirche gerufen. Er hat damals geantwortet:

Höchster glorreicher Gott!
Erleuchte die Finsternis meines Herzens
und schenke mir rechten Glauben,
gefestigte Hoffnung und vollendete Liebe.
Gib mir, Herr, das rechte Empfinden und Erkennen,
damit ich deinen heiligen Auftrag erfülle,
den du mir in Wahrheit gegeben hast.

Ob dieses Gebet nicht auch unser Gebet werden sollte? Denn auch unsere Berufung war und ist Berufung, dem inneren Leben der Kirche zu dienen.

Br. Lothar bei Wikipedia