Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt

Vivere-Jahrestreffen in der Rhön vom 28.06. bis 30.06.2024

An einem heiß-schwülen Wochenende traf sich die Vivere Bewegung in der Rhön zu einem ungewöhnlichen Thema: 800 Jahre Stigmatisation des Heiligen Franziskus. Dieses Jubiläum muss natürlich gefeiert werden, aber was ist das für ein sperriges Thema! Doch wir wären nicht Vivere, wenn wir nicht vielfältige kreative Zugänge gefunden hätten, um in dem düster und bedrohlich wirkenden Szenario die versöhnlichen und heilsbringenden Verwandlungsmöglichkeiten zu entdecken. Bei der Abschlussrunde gab es mehrfach die Rückmeldung, dass die Teilnehmenden jetzt mit einem positiven und optimistischen Gefühl an das Thema, aber auch an Brüche und Wunden im eigenen Leben herangehen können. 

Vivere lebt: Hoffnungsschimmer!

Der Freitagabend begann mit einer besinnlichen Vesper, die uns schon in das Thema einführte. Zur Stärkung danach hatte uns das Willkommenskomitee aus Fulda ein warmes Abendessen vorbereitet. 

In einer gemütlichen Abendrunde draußen in der grünen Natur, umringt von Glühwürmchen, tauschten sich die 32 Teilnehmenden munter und lebendig aus: was hatten wir nicht alles seit dem letzten Jahr erlebt: einige waren auf Pilgerreise nach Assisi, viele waren beim wunderbaren Katholikentag in Erfurt mit dem Höhepunkt eines Franziskusgottesdienstes in der Barfüßer Kirche aktiv https://www.franziskanisch.net/allgemein/impressionen-vom-katholikentag/ ,  noch andere haben sich inzwischen zu WortgottesdienstleiterInnen qualifiziert, wovon auch die Vivere-Gruppe profitiert: es wurden kreative, liturgische Elemente entwickelt und ausprobiert. Auch die Vernetzung mit anderen Franziskaner-Gruppierungen wurde bewusst gepflegt, z.B. bei der Vorbereitung der 800 Jahre Jubiläen. Anderenorts waren etliche Vivere Geschwister bei Demonstrationen politisch aktiv und haben Exerzitientage, Workshops und Impulsspaziergänge durchgeführt.
Als guter Anlaufpunkt für Einzelkämpfer von Dresden bis Bonn, von Hamburg bis in die Voralpen hat sich die digitale Vivere Gruppe weiter bewährt. Und - als kleiner Ausblick auf den nächsten Tag - sprachen wir viel über die Hoffnungsschimmer, die es trotz allen Unheils auch im Umfeld von Vivere und durch Vivere gibt. Erinnert sei an die Initiative „Hoffnungsschimmer“ von Bruder Stefan OFM, die dazu einlädt, solche ‚positiven‘ und mutmachenden Geschichten, Erlebnisse, Lieder, Gedichte, Bilder … mit anderen franziskanisch gestimmten Menschen zu teilen. https://www.franziskanisch.net/allgemein/hoffnungsschimmer-der-woche-7/

Kurz vor Mitternacht klang der bunte und gesellige Abend in fröhlicher Stimmung aus, und diejenigen, die noch auf der Straße unterwegs waren, konnten ein ganz besonders hübsches und intensives atmosphärisches Leuchten wahrnehmen.

Stigma – ein Tattoo Gottes

Am Samstag ging es dann zur Sache. Schon die Laudes stimmte in das Thema der Verwandlung (von Leid, Trauer, …in Heil, Freude, …) ein. Stigmatisation: wovon reden wir, was meint dieser sperrige und missverständliche Begriff (und was nicht). Eine spontane Sammlung solcher Assoziationen und Redewendungen weitete den Blick und veränderte die Perspektive: Sehnsucht, Vulnerabilität (Verletzlichkeit und Verletztsein), Empfindsamkeit - Empathie - compassion, Begegnung – Berührung - Beziehung, Anteilnahme – Annahme, Zeichen – Erkennungszeichen - Auszeichnung, Leiden - Leidenschaft, Zugehörigkeit - Tattoo Gottes.
Mit diesen Eindrücken im Ohr hörten die Viveres dann Erzählung von der Stigmatisation des Heiligen Franziskus nach den Franziskus-Chronisten Celano. 

Stigmatisation: Nicht Stigmatisierung, sondern Auszeichnung! 

Im folgenden Interview erklärten die Franziskaner Br. Stefan Federbusch und Br. Cornelius Brohl, wie aus Sicht der Experten dieses Geschehen historisch einzuordnen ist und welche Bedeutung es für Franz von Assisi hatte. So sei Franz‘ Leidenschaft für Christus im Lauf seines Lebens immer mehr gewachsen: der Grundstein für diese ganz intensive und intime Berührung mit dem Herrn und die Identifikation mit den Leidenden habe schon viele Jahre vorher, z. B. bei der Berührung mit dem Aussätzigen, ihren Anfang genommen. Was Franz tiefe innere Liebe und Leidensnachfolge prägte, sei beim ‚Akt der Stigmatisation‘ ‚nur‘ noch äußerlich sichtbar geworden - was Franz selbst anderen gar nicht zeigen wollte.
Auf die zweite Frage, welche Bedeutung die Stigmatisation im Ordensleben bis heute habe, verwiesen die Referenten u.a. darauf, dass bei der Leidensbetrachtung die Stigmatisation bei FranziskanerInnen eine große Rolle spiele. Es gäbe in fast allen franziskanischen Orten Bilder dieses Geschehens, z.T. verbunden mit einer starken (uns heute oft fremdartigen) Leidensmystik. Der Gedanke der compassion, (des Mitleidens) aber und die radikale Zuwendung zu denen, die der Heilung und des Heils bedürfen, seien in den letzten 800 Jahren eine treibende Kraft für solidarisches, Menschen zugewandtes Handeln gewesen und sei es noch. 
Pater Cornelius wies außerdem darauf hin, dass die Fragen, ob - und wenn ja wie - dieses medizinisch nicht vollständig erklärbare und mehrdeutige Wunder tatsächlich passiert sei, zweitrangig sei. Entscheidend und lebensprägend sei die Erkenntnis, dass die Liebesbeziehung von Franz zu dem Auferstandenen ihn nicht unberührt und unbeschädigt lasse. Es gelte für jede’n, der/ die sich auf die Christusnachfolge einlasse, dass solche Spuren der Leidenschaft (Passion) sichtbar werden und ertragen und getragen, aber auch bei andern geheilt werden könnten.
Eine Bildbetrachtung und -meditation zu dem Bild von „Franziskus und die Armut“ (vgl. die Materialsammlung des Treffens in der Vivere-cloud) bot noch einen künstlerisch-spirituellen Zugang zu diesem Thema.

Berührt und berührbar – Vulnerabilität und offene Wunden
mit diesen Einführungen im Kopf, tauschten sich die Teilnehmenden in Kleingruppen darüber aus, welche Bedeutung das Thema „Stigmatisation“ in ihrem persönlichen Leben oder in der heutigen Gesellschaft und Kirche hat, wie sie mit den offenen Wunden und den Stigmatisierungen unserer Zeit umgehen. Es ergab sich ein intensiver persönlicher Erfahrungsaustausch über die eigenen Wunden und Verwundbarkeit sowie über den Umgang mit den Brüchen und Bedrohungen unserer Zeit als Einzelne’r wie als Vivere-Gruppe

Mit großer Disziplin kamen wir um Punkt 12:00 Uhr wieder zusammen, um das traditionelle Vivere Samstagsgebet abzuhalten, das Gebet für unsere Erde von Papst Franziskus.
Und wie jedes Mal bei den überregionalen Treffen füllte sich wunderbar der Mittagstisch, zusammengetragen aus allen mitgebrachten Speisen und dann auch noch frisch geschnippelt und gekocht.

Die Sehnsucht des Menschen nach dem, Wasser des Lebens

Ein intensiver Bibliolog entführte uns am Nachmittag an den Jakobsbrunnen, wo Jesus auf die Samariterin traf und anders als die zeitgenössischen Juden (v.a. die Männer) - ohne Berührungsangst und ohne Rücksicht auf Regeln, Konventionen und Tabus - die Sehnsüchte dieser Frau nicht nur spürte und ernst nahm, sondern die Frau durch seine Nähe körperlich wie seelisch heilte. Wir konnten förmlich miterleben, wie eine zuvor stigmatisierte und zutiefst verletzte Samariterin durch das lebendige Wasser Jesus so umgewandelt wird, dass sie sogar zur Botschafterin des Heilands wurde.

Wir sind alle Handlanger Gottes

Es folgte einem Impulsspaziergang mit drei Stationen draußen auf dem herrlichen und weiten grünen Gelände. Die Teilnehmenden wurden dabei ermutigt, die Natur mit allen Sinnen wahrzunehmen und zugleich die Schöpfung in ihrer Schönheit, Bedrohtheit und Heilsamkeit zu erfahren. Dieser Rundgang öffnete bei allen die Sinne: das Auge für den achtsamen Blick, das Herz für das Mitfühlen und Mitleiden, das ‚Herzauge‘ für das erlösende Handeln Jesu für die ganze Schöpfung im Kreuz sowie die heilenden und Segen spendenden Hände. So spürten alle, wie und wo sie sich ermutigt fühlen können, als Handlanger Gottes wirksam zu werden, auch an den offenen Wunden unserer Zeit: der Einsamkeit, der Sinnlosigkeit, der Hoffnungslosigkeit, der Beziehungslosigkeit, der Sprachlosigkeit und der Gottverlassenheit. Alle fühlten sich ermutigt: Es geht! Anders! Wir können die Vision vom schalom Gottes teilen! (vgl. die franziskanische Aktion Vision: teilen in Düsseldorf)

Heilende Bewegung: Kintsugi und Tanz

Am Abend gab es noch weitere Möglichkeiten, sich dem Thema Lebensbrüche und Heilung kreativ und sinnlich zu nähern: in einem Kintsugi-Workshop wurden zerbrochene Gefäße wieder zusammengefügt und erhielten dabei goldene Bruchkanten. Den Abschluss des Tages bildete ein Tanzworkshop, den Hiltrud anleitete. Mit Anmut und Grazie und großem Vergnügen ergaben sich schöne Tanzfiguren. Zum Glück blieb das angekündigte Gewitter aus, und die Nationalmannschaft gewann auch noch ihr Achtelfinalspiel.

Gottes Wort als Lebensspeise

Am Sonntagmorgen fand eine Wort-Gottes-Feier statt, in der der Hoffnungsaspekt der Heilung und Verwandlung noch einmal betont und sinnlich erlebt wurde: „Du hast Worte ewigen Lebens, Herr. Sprich nur ein Wort, so werde ich geheilt: statt des gebrochenen Brotes gab es eine „Wortkommunion“, wo die Teilnehmenden sich gegenseitig durch Bibelworte ermutigten. Zum Abschluss erhielten alle einen persönlichen Segen zur Stärkung im eigenen Leben wie zum Zusammenwachsen als Vivere-Geschwister. 

Statt vieler Worte: eine neue Sicht und eine neue Erfahrung
All diese vielfältigen Elemente und Eindrücke des Wochenendes haben bei den allermeisten dazu geführt, das etwas unheimliche Thema Stigmatisation nicht nur theoretisch zu durchdringen, sondern auch ganz praktisch und ganzheitlich zu erleben und vor allem in einem anderen, nämlich hoffnungsvollen und positiveren Licht zu sehen. Es hat Spuren hinterlassen. Manches hat sich eingeprägt, anderes ging unter die Haut und allen war anzusehen, wie sie von dem Zusammensein beschwingt und gestärkt waren.

Gute Aussichten: auf ein Wiedersehen

Auch der Ausblick ist schön: im nächsten Jahr feiert Vivere sein zehnjähriges Jubiläum, und tut dies gemeinsam mit der ganzen franziskanischen Familie, denn aus Anlass der 800-Jahr-Feier des Sonnengesangs des Hl. Franziskus treffen sich alle zu einer gemeinsamen Feier in Münchsteinach bei Würzburg am 24. bis 26. Oktober. Save the Date!!!

Stephanie Schaerer und Joachim Schick