Die Vivere Regionalgruppe Köln hat sich rund um die franziskanische Obdachlosenseelsorge Gubbio entwickelt. Einige sind dort schon seit langem ehrenamtlich tätig. Darüber hinaus besuchen wir z.B. die monatliche Hl. Messe am Samstagnachmittag mit anschließendem Abendessen.
Da lag eine Aktion für Menschen auf der Straße nahe, und zwar gemeinsam frischen Kaffee/Tee und belegte Brötchen zu verteilen. Wir haben uns beim November Treffen für den 2. Weihnachtsfeiertag entschieden. Und uns morgens früh getroffen um in Gubbio Kaffee und Tee zu kochen, sowie die frischen Brötchen vom Bäcker zu schmieren. Es sind noch Kerzen, Weihnachtsgebäck und Hundefutter hinzugekommen. Untereinander hatten wir abgestimmt, was denn jeder mitbringt. Wie das so ist am frühen Morgen, es war einfach stressig. Gott-sei-Dank schlug jemand vor, bevor wir los ziehen ein gemeinsames Gebet zu sprechen. Damit waren wir gut eingestimmt für den Tag.
Dann sind wir zu acht mitsamt zwei Bollerwagen in die Stadt gezogen. Mit der U-Bahn zum Apellhofplatz und dann weiter zu Fuß entlang allen uns bekannten Treffpunkten und Unterschlüpfen um den Hauptbahnhof/ Dom der Menschen auf der Straße.
Kaum ausgestiegen verteilen wir Kaffee. Einer der ersten Begegnungen waren mit einem Welten-bummler per Fahrrad, der gerade auf dem Weg nach Barcelona sei. Unsere Aktion beginnt mit Weite.
Zunächst ein wenig zum spirituellen Hintergrund. Jesus hat zu Beginn der Bergpredigt die Seligpreisungen gesprochen (Mt 5, 1-12) und darin ausdrücklich von den Armen.
3 Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. (lt. EÜ)
Nach der Überzeugung des Matthäus können wir nicht Christ sein, ohne eine entsprechende Lebenspraxis aufzuweisen. Im Lukasevangelium sind eindeutig die materiell Bettelarmen gemeint.
In der Fassung von Klaus Wengst (emeritierter Neutestamentler der Uni Bochum) heißt es:
3 Glücklich, die bei den Bettelarmen stehen: Ihnen gehört das Himmelreich!
In meiner Vorstellung sehe ich Jesus, der ohne Scheu auf all jene zugeht und ihnen beisteht, die seines Vaters bedürfen. Es geht also um Begegnung mit einem Menschen. Und mit Gott. Mit den Armen zu gehen, ihnen zur Seite zu stehen bedeutet sinngemäß das Leiden in der Welt aushalten.
Ihnen verheißt Jesus das Himmelreich. Oder anders ausgedrückt: Gott nimmt uns auf in sein Reich, verbindet sich mit uns, ist mitten unter uns, da wo wir dem Nächsten beistehen.
Bei einer solchen Frühstücks-Aktion gilt es also nicht möglichst viel zu verteilen, möglichst vielen zu helfen. Sondern es geht um Begegnung. Eine Übung im Teilen, im auf Augenhöhe begegnen, im Zuhören, sich berühren lassen und dem Nächsten spürbar Gutes zu wünschen. Die uns von Gott geschenkte Würde im anderen, im ‚Du‘ zu erkennen, anzuerkennen.
Es gibt eine Versuchung sich in eine Rolle hinein zu begeben. Nämlich als Helfer da zu stehen. Damit erhöhe ich mich jedoch über mein Gegenüber. Gott allein weiß um unser aller Bedürftigkeit. Wer also bin ich über die Armut eines Nächsten zu richten?! Mich besser zu fühlen, weil ich ja nicht so elend ausschaue, oder weil ich etwas zu geben habe?!
Es gab eine Vielzahl an Begegnungen. Mir ist Peter begegnet, gebürtiger Holländer, mit geschätzt über 50 etwa meines Alters, nicht mehr in der Lage selbst zu gehen oder zu stehen. Da sein billiger Rollstuhl nicht über eine Fußstütze verfügte, war jegliche Steigung bzw. Neigung eine ungeheure Anstrengung für ihn.
Wir trafen ihn am Portal zum Dom. Da bat er mich ihn zum gegenüberliegenden Hauptbahnhof zu schieben. Dabei wurde mir bewusst, wie selbstverständlich jeder diese kurze Strecke zurücklegt, die breite Treppe am Vorplatz hinunter. Im Rollstuhl bedeutet es erstmal einen geeigneten Weg zu finden. Peter bedankt sich immer wieder, bis es mir schon peinlich ist, weil es doch nichts Besonderes sein sollte höflich zu unterstützen. Ist das nicht selbstverständlich? Wie einem älteren Menschen in die U-Bahn zu helfen, einer Schwangeren den Platz frei zu machen, einer Mutter mit Kleinkind den Kinderwagen eine Treppe hoch oder runter zu tragen. Doch Peter wird scheinbar anders wahrgenommen. Ein Armer und auch noch gebrechlich, behindert?! Das ist Zuviel der Zumutung in unserem Alltag. „Mit so viel Problemen möchte ich mich jetzt nicht belasten!“, sagt sich jeder, der vorrübergeht. Im Bahnhof kurz vor dem Ausgang Breslauer Platz müssen die ersten von uns Mal auf Toilette. Innerlich verabschiede ich mich von Peter, weil auch ich so berührt bin, ob der Hilflosigkeit und zugleich Dankbarkeit eines Menschen in Not, dass ich es kaum mehr aushalte. Ich schäme mich dieser Unwürdigkeit. Und ich bin wütend, wie Gott so etwas zulassen kann.
Tja, daraufhin schenkt mir der Herr Gott eine tiefer gehende Lektion. Peter spricht von Gulliver, der hiesigen ‚Überlebensstation für Obdachlose‘ im ersten Bahnbogen unterhalb der Eisenbahnbrücke. Und einige aus unserer Gruppe kennen diese Hilfseinrichtung und ermuntern ihn sich dort hin zu begeben zu einer Weihnachtsfeier. Ich, weiterhin naiv hilfsbereit, war noch nie dort und frage nach dem genauen Standort. Dann machen wir beide uns auf den Weg und schnell fällt mir auf, was eine Schnapsidee dies sein könnte. Es geht etwa 300 m abwärts. Wie soll er da je wieder alleine zurückkommen? Gefühlt eine Ewigkeit, vermutlich nur eine halbe Stunde später, kommen wir unten an. Vor dem Eingang stehen vielleicht 30 Menschen, es ist kurz vor 10 Uhr und wird erst um zehn geöffnet. Doch noch zuvor sagen einige sehr bestimmt: „Was will der denn hier? Das Gulliver ist nicht behindertengerecht und der kommt hier sowieso nicht rein!“ Das schockt mich. Jetzt bin ich selbst in der Rolle des Hilflosen und entsetzt, mir scheinen die Worte grausam. Doch das stimmt so nicht, es war einfach nur ehrlich. Als sich die Türen öffnen, lässt uns der Security Mitarbeiter nicht hinein, mit genau diesem Hinweis: Gulliver sei darauf nicht eingerichtet. Schnell wird mir klar: kein Fahrstuhl zum 1. Stock, keine behindertengerechten Sanitäranlagen, keine entsprechenden Fluchtwege, die Bauordnung ist da eindeutig. Doch erst muss sich die Enttäuschung Luft machen und ich fange an zu meckern. „An Weihnachten jemand abzuweisen? Das ist ja wie der Heiligen Familie keine Unterkunft zu gewähren!“ Jetzt fühle ich mich besser, habe ich doch moralisch Oberhand! Mir graut noch vor dem Rückweg, ich stelle ihn mir viel anstrengender vor als hin. Peter ist zwar enttäuscht, aber bei weitem nicht so überrascht wie ich.
Für ihn ist es Alltag, abgewiesen zu werden. Wie stark muss jemand sein, um auf der Straße zu überleben!
In dieser Schwere begegnen wir nach einigen Metern einem alten Herrn, der uns sieht und anspricht. Offenbar will auch er zur Weihnachtsfeier. Doch sein Mitgefühl und seine „Frohe Weihnachten“ lassen uns erinnern: „Uns ist der Heiland geboren.“ In diesem Nächsten begegnet uns Christus! Er weiß um unsere Müdigkeit, Traurigkeit und Enttäuschung. Und richtet uns mit diesem Gruß und die Hand reichend wieder auf. Wie durch ein Wunder spüre ich keinerlei Anstrengung den Weg hinaufschiebend. Peter und ich unterhalten uns noch ein wenig und können auch gemeinsam still sein. Das ist Weihnachten.
Bei unserem nächsten monatlichen Treff reflektieren wir unsere Aktion. Das gemeinsame Handeln, in Vorbereitung, Umsetzung und Nachbesprechung lässt uns als Gruppe zusammenwachsen. Wir sind dankbar für die Erfahrung und wollen es ein anderes Mal, vielleicht in der Osterwoche, wiederholen.
So ist mein Fazit dieses Vormittags: Vivere, hat sich auf den Weg gemacht und eine jede und ein jeder von uns bringt sein Charisma ein. Wir haben uns angenähert den neuen Menschen anzuziehen. Es war eine erste Übung in der Nachfolge Christi. Weitere ‚Exerzitien‘ werden noch Teil unseres Weges.
Die eingangs erwähnte Seligpreisung hat sich bewahrheitet:
Uns ist Gottesbegegnung geschenkt worden. Wir dürfen auf Gottes Wort vertrauen!
Bernd, Vivere Regionalgruppe Köln